Die ELKB stellt sich dem Thema „Sexualisierte Gewalt“ in der Kirche – und warum Kirchenvorstände das auch tun sollten

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Martin Simon im Gespräch mit Dr. Barbara Pühl, Leiterin des Referats Chancengerechtigkeit und der Fachstelle für den Umgang mit sexualisierter Gewalt im Landeskirchenamt

Frau Dr. Pühl, Sie haben einen weiten Aufgabenbereich rund um Themen, die mit einem fairen Miteinander in der Kirche zu tun haben. So sind Sie auch Ansprechpartnerin für Vorkommnisse rund um sexualisierte Gewalt. Wer kommt mit welchen Anliegen zu Ihnen und wie können Sie weiterhelfen?

Die Fachstelle für den Umgang mit sexualisierter Gewalt gibt es erst seit zwei Jahren. Sie ist unterteilt in zwei Arbeitsbereiche: a) die Arbeit mit Betroffenen und b) den institutionellen Umgang mit dem Thema.

a) Für Menschen, die in Kirche oder Diakonie sexualisierte Gewalt erfahren haben gibt es eine Ansprechstelle. Betroffene wenden sich mit ganz unterschiedlichen Anliegen an uns. Manche wollen das, was ihnen passiert ist, aufklären und anzeigen. Dann beraten wir sie zu den Abläufen von staatlichen und kirchlichen Verfahren. Andere suchen therapeutische oder finanzielle Unterstützung. Ihnen helfen wir bei der Suche nach geeigneten Therapie- und Finanzierungsmöglichkeiten. Bei lange zurückliegenden Fällen, in denen Täter nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können, können Betroffene einen Antrag auf finanzielle Unterstützung bei der Unabhängigen Kommission stellen und auch von der Kirche Geld bekommen. Wieder andere kommen zu uns, weil sie Frieden mit ihrer Geschichte schließen wollen und dazu gehört für sie, es dorthin zurückzutragen, woher sie es haben. Manche Betroffene begleiten wir über längere Zeiträume. In der Ansprechstelle arbeiten wir vertraulich. Das heißt, die Betroffenen entscheiden, was der nächste Schritt ist und ob es zu weiteren Maßnahmen kommt, oder nicht. Einzige Ausnahme ist, wenn wir Sorge haben müssen, dass die betroffene Person weiterhin oder auch Dritte gefährdet sind und es sich um strafrechtlich relevante Taten handelt. Dann kann es sein, dass wir uns gezwungen sehen, den vertraulichen Rahmen von uns aus zu verlassen und tätig zu werden.

b) Im institutionellen Bereich geht es um Prävention, Intervention und Aufarbeitung.
Auch in diesem Bereich kommen Menschen zu uns – es sind meist Mitarbeitende der Landeskirche. Eine Kirchenvorsteherin meldet sich zum Beispiel in der Meldestelle, weil es einen Verdachtsfall in ihrer Gemeinde gibt. Dann beraten wir, wie das richtig eingeschätzt werden kann und welche Schritte der Intervention gegebenenfalls notwendig sind. Andere suchen Fortbildungen zur Prävention und Unterstützung für die Erstellung von Schutzkonzepten. Wir sind also mit sehr vielen Menschen und ganz unterschiedlichen Anliegen im Kontakt

Kirchenvorstände beschäftigen sich aktuell mit den Widrigkeiten rund um die Pandemie und machen sich Gedanken zur Umsetzung der Landesstellenplanung. Warum soll sie das Thema Sexualisierte Gewalt in der Kirche und ihre Prävention auch noch beschäftigen?

Diese Frage kann ich gut nachvollziehen. Die beiden von Ihnen genannten großen Themen sind eine existenzielle Herausforderung für die Kirche und für alle Arbeit in den Gemeinden, die viele Kräfte bindet. Wer regelmäßig Zeitung liest, weiß aber auch, dass das Thema sexualisierte Gewalt die Menschen bewegt. Dabei geht es unter anderem um Vertrauen. Wenn wir wollen, dass Menschen uns und unserer Arbeit vertrauen, müssen wir zeigen, dass wir sexualisierte Gewalt ernst nehmen. Dass wir unser Mögliches tun, um sie zu verhindern und dass wir aktiv aufklären, wenn etwas passiert ist. Leider gibt es das tatsächlich auch in unserer Kirche – in unseren Kirchengemeinden. Sogar in Zeiten des Lockdowns. Wir staunen selbst, dass sich im vergangenen Jahr über 20 Personen an die Ansprechstelle gewandt haben.

Die Landessynode hat mit dem Präventionsschutzgesetz ein klares Zeichen gesetzt. Was ist sein Anliegen und was braucht es, damit es wirksam umgesetzt werden kann?

Mit dem Präventionsgesetz hat die Synode ein Statement abgegeben: sexualisierte Gewalt wird nicht toleriert. Es ist mit dem Evangelium und dem christlichen Glauben unvereinbar. Damit dies aber kein reines Lippenbekenntnis bleibt, geben sich Kirche und Diakonie dieses Gesetz. Es ist eine Selbstverpflichtung – wir wollen alle unsere Tätigkeitsbereiche auf Risiken überprüfen, Vorkehrungen treffen, um sexualisierter Gewalt wirksam vorzubeugen und dort verantwortlich handeln, wo Vorfälle bekannt werden. Neben einer juristischen Aufarbeitung ist dabei auch die Berücksichtigung der Belange von Betroffenen und dem Umfeld, in dem etwas passiert ist, im Blick.
Damit das Gesetz wirksam umgesetzt werden kann, brauchen wir die Mithilfe aller Kirchenmitglieder. Dazu gehört nicht nur, dass auch der letzte Kellerwinkel des Gemeindehauses als sicherer Ort zu garantieren ist. Viel wichtiger noch ist für den Anfang, den schier unerträglichen Gedanken zuzulassen, dass vielen Tätern und Täterinnen ihr Verhalten nicht anzumerken ist. Dass sexualisierte Gewalt häufig im Verborgenen passiert. Und dass sie weitergeht, wenn wir nicht besser hinschauen und vorsorgen. Das ist gar nicht so einfach – ohne plötzlich alle unter Generalverdacht zu stellen. Aber sowohl in Kirche als auch in allen anderen Bereichen der Gesellschaft werden wir mit diesem dunklen Thema erst dann weiterkommen, wenn Menschen bereit sind zu erkennen: das gibt es überall und es geht uns alle an.

Der katholischen Kirche fällt der nachlässige Umgang mit dem Thema jetzt auf die Füße - und die evangelische Kirche leidet mit. Was müssen wir daraus lernen?

In erster Linie erkennen wir, dass viele Menschen nicht zwischen katholischer und evangelischer Kirche unterscheiden. Was die Existenz von sexualisierter Gewalt angeht, gibt es diese ja auch in beiden Kirchen. Gleichwohl unterscheiden sich Strukturen und kirchliches Leben in beiden Kirchen an vielen Stellen gravierend. Das heißt, dass die Hintergründe, die sexualisierte Gewalt in unserer Kirche begünstigt haben, andere sind, als in der katholischen Kirche. Entsprechend müssen auch die Maßnahmen in der Präventionsarbeit und in der Aufarbeitung anders aussehen. Leider ist das nach außen oft schwer zu vermitteln. Viele glauben: Kirche ist Kirche. Umso mehr sind wir deshalb gefordert, das, was wir aktiv gegen sexualisierte Gewalt tun, sichtbar zu machen.

Machen wir es konkret: Was fällt in die Verantwortung der Gemeindeleitung vor Ort, was muss und kann der Kirchenvorstand tun?

Das Präventionsgesetz sieht vor, dass alle ehren- und hauptamtlichen Mitarbeitenden der Kirche mindestens eine Basisschulung zu der Thematik erhalten. Außerdem hat jede Kirchengemeinde bzw. Pfarrei ein individuelles Schutzkonzept, dem eine detaillierte Risikoanalyse vorausgeht, zu erstellen. Der Kirchenvorstand als Leitungsgremium trägt dafür die Verantwortung. Bis 2025 soll jeder kirchliche und diakonische Träger ein eigenes Schutzkonzept haben.
In der Gemeinde soll außerdem eine Person als Präventionsbeauftragte*r benannt werden. Die Person ist dann dafür zuständig, das Thema präsent zu halten und die Leitungsverantwortlichen bei der Schutzkonzeptarbeit oder Organisation von Schulungen zu unterstützen. Das können auch neben- oder ehrenamtliche Mitarbeitende sein.

Was heißt „Schutzkonzept“ – wer erstellt es mit wem für wen?

Vor dem Schutzkonzept steht immer eine Risikoanalyse. Dabei geht es darum, die Gegebenheiten vor Ort zu sichten: welche Räume, welche Gruppen, welche Veranstaltungen gibt es bei uns und welche Mitarbeitenden? Wo liegen potenzielle Gefährdungen und wo haben wir schon bestehenden Schutz?
Auf dieser Basis wird dann das individuelle Schutzkonzept erarbeitet. Es orientiert sich an einem vorgegebenen Rahmen, dem Rahmenschutzkonzept. Dieses nennt sämtliche Maßnahmen, die zur Vorbeugung von sexualisierter Gewalt notwendig sind. Diese werden dann auf die konkrete Situation in der jeweiligen Gemeinde übertragen und angepasst.
Zum Beispiel sind dort alle Verantwortlichen benannt, es enthält einen Verhaltenskodex, der von allen Mitarbeitenden der Gemeinde zu unterzeichnen ist und es enthält einen Interventionsplan, damit im Verdachtsfall klar ist, wer zu informieren und was zu tun ist.
Das Rahmenschutzkonzept für die Landeskirche und die Diakonie wird gerade von internen und externen Gremien und Fachkreisen begutachtet. Im September wird es verabschiedet und ist dann verbindlich für alle. Gemeinden, die sich jetzt schon auf den Weg machen wollen, können sich aber bereits jetzt daran orientieren, denn die meisten Bausteine sind keine spezifisch kirchlichen Bausteine, sondern sind Standards solcher Schutzkonzepte. Die aktuelle Version ist im Intranet auf der Seite der Chancengerechtigkeit bzw. der Fachstelle zu finden.
Wenn das Rahmenschutzkonzept verabschiedet ist, wird noch ein bereichsspezifisches Schutzkonzept für den Bereich Kirchengemeinden/Dekanatsbezirke erarbeitet. Abgestimmt auf die dort relevanten Fragen soll es als Musterkonzept für die individuellen Schutzkonzepte dienen und den Gemeinden und Dekanatsbezirken die Arbeit vor Ort erleichtern.
Das erarbeitete Schutzkonzept einer Gemeinde wird von der Fachstelle für den Umgang mit sexualisierter Gewalt abgenommen. Ziel ist, damit eine gewisse Einheitlichkeit und vor allem die Einhaltung gemeinsamer Standards zu gewährleisten. Bitte informieren Sie uns deshalb, wenn Sie schon ein Schutzkonzept erarbeitet haben oder gerade dabei sind, eines zu erstellen.

Was gilt für nebenamtliche und ehrenamtliche Mitarbeitende?

Nebenamtliche und ehrenamtliche Mitarbeitende, die in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen tätig sind, müssen (wie alle hauptberuflichen auch) ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. Das ist in der Jugendarbeit bereits Standard und wurde durch das Präventionsgesetz noch einmal präzisiert und etwas ausgeweitet. Zudem müssen alle Mitarbeitenden den im Rahmen des Schutzkonzepts verabschiedeten Verhaltenskodex (bzw. die Selbstverpflichtung oder Leitlinien) kennen und sich damit einverstanden erklären.
Wenn neben- oder ehrenamtliche Mitarbeitende von einem Verdachtsfall erfahren, sollen sie dies an Leitungsverantwortliche weitergeben. Sie haben aber auch das Recht, sich vorher bei externen Fachberatungsstellen oder bei der kirchlichen Meldestelle beraten zu lassen. Die Beratung kann in anonymisierter Form erfolgen.

Wo finden Kirchenvorstände Ansprechpartner*innen?

Es sind aktuell vier Regionalstellen für die Präventionsarbeit ausgeschrieben. Die Aufgabe dieser Stellen wird sein, in den Kirchengemeinden und Dekanatsbezirken Fortbildungen anzubieten und bei der Erarbeitung ihrer Schutzkonzepte zu unterstützen. Sobald diese Stellen besetzt sind, können Kirchenvorstände dort anfragen.
Aktuell richten Kirchenvorsteher*innen ihre Anliegen am besten direkt an die Fachstelle. Anfragen und Meldungen in der Meldestelle werden immer zeitnah bearbeitet. Für Schulungen und zur Schutzkonzeptarbeit bitten wir, frühzeitig Termine zu erfragen und zu vereinbaren.
Grundsätzlich erhalten Sie zu allen fachlichen und inhaltlichen Fragen zu sexualisierter Gewalt aber auch bei externen Fachberatungsstellen Informationen. Sie sind meist Verein auf Ortsebene organisiert (z.B. Wildwasser e.V., Frauennotruf e.V., Rauhreif e.V., etc.).

Ein Gruß zum Schluss

Uns ist bewusst, dass die Kirchengemeinden vor großen Aufgaben stehen und gerade auch Ihnen als Kirchenvorsteher*innen viel zugemutet wird. Wir hoffen dennoch, dass Sie mit uns das kirchliche Engagement gegen sexualisierte Gewalt als wichtige Aufgabe und Investition in die Zukunft sehen. Gerne beraten und unterstützen wie Sie dabei vor Ort. Geben Sie uns Bescheid – wir lassen Sie nicht allein!

Weiterführende Informationen
Detaillierte Informationen über die Arbeit der Fachstelle und Kontaktdaten finden Sie im Internet oder im Intranet (ein Intranet-Zugang ist erforderlich!).